Leseprobe „Ein Weihnachtswunder in 9 Tagen“
1. bis 15. DEZEMBER
Alma kam um ein Uhr morgens nach Hause. Sie ging leise durch den offenen Patio der Vecindad. Das bescheidene Mehrfamilienhaus lag mitten in der Stadt und war bereits in die Jahre gekommen. Die graue Farbe war an mehreren Stellen abgeblättert. Die Eingangstüren der kleinen Wohnungen aus Metall zeigten kleine Roststellen. Die Wohnungen waren mit Gitterfenstern versehen. Vor den Wohnungen im Patio standen verschiedene Pflanzen, die in unterschiedlichen Töpfen gepflanzt waren. Und trotzdem machte sich eine gewisse Behaglichkeit breit, denn es war erkennbar, dass alle Bewohner im Rahmen ihrer Möglichkeiten für Ordnung und Sauberkeit sorgten. Alma und ihre Mutter waren jeden Tag dankbar, damals diese Vecindad gefunden zu haben, in der Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft an erster Stelle standen.
Alma kam an der „Figur der Jungfrau von Guadalupe“ vorbei und bekreuzigte sich. In den meisten Vecindades befand sich diese Figur der Heiligen. Die Mexikaner glaubten fest an sie und legten ihr Leben und ihr Schicksal in ihre Hände. Sie schaute auf die Jungfrau von Guadalupe. Ihr Herz schlug ihr noch immer bis zum Hals und ihre Hände zitterten. Sie warf einen Blick in den Himmel. Es war eine sternenklare Nacht. Ihre Augen wanderten schließlich in die Mitte des Patios, in dem bereits einige Nachbarn angefangen hatten, den großen Weihnachtsbaum zu schmücken. In Mexiko war es Tradition, den Weihnachtsbaum in den ersten Dezembertagen aufzustellen, meist schon zum ersten Dezember.
Die kleine Wohnung, die Alma mit ihrer Mutter teilte, befand sich im zweiten Stock. Es war eine kalte Dezembernacht in Mexiko-Stadt. Die letzten Jahre war es in den Wintermonaten zunehmend kälter geworden, da Mexiko-Stadt zweitausend Meter hoch lag, was sich gerade in den kalten Monaten sehr bemerkbar machte. Alma ging die Steinstufen hinauf und schloss leise die bescheidene Metalltür ihrer kleinen Wohnung auf. Langsam trat sie ein und atmete erleichtert auf. Es war dunkel. Einzig eine Lichterkette leuchtete im Fenster. Und es war kalt. Ein Windzug bahnte sich den Weg durch das Metallfenster. Alma schüttelte sich, seufzte und machte sich bettfertig. Ihre Mutter schlief tief und fest. Im gemeinsamen Schlafzimmer befanden sich zwei Einzelbetten. Alma streichelte ihrer Mutter zärtlich über den Kopf. Sie legte sich ins Bett. Ihr war noch immer kalt. Die Wohnung hatte, wie alle anderen auch, keine Heizung. Und sie konnten sich auch keinen kleinen Heizkörper leisten. Sie zog eine Wolldecke über und versuchte zu schlafen. Aber es gelang ihr nicht. Sie wälzte sich hin und her.
Und ihre Gedanken schweiften zu Rodolfo Escalante. Sie dachte an den Tag zurück, als sie sich vor sechs Monaten kennengelernt hatten. Er war mit einer Schusswunde in das private Krankenhaus eingeliefert worden, in dem Alma als Krankenschwester arbeitete.
Rodolfo Escalante war ein durchaus attraktiver Mann, mit stechenden blauen Augen, grau meliertem Haar, markanten und männlichen Gesichtszügen. Er war Anfang fünfzig. Als Rodolfo aus dem Koma erwachte und Alma erblickte, fragte er irritiert: „Wo bin ich?“ „Im Krankenhaus. Sie lagen im Koma“, klärte sie ihn freundlich auf. „Was ist denn passiert?“, erkundigte er sich besorgt. „Können Sie sich nicht erinnern?“, fragte Alma vorsichtig. Rodolfo schüttelte den Kopf. „Eine Schussverletzung an der linken Schulter hat Sie zu uns geführt. Sie hatten großes Glück, dass der Schuss nicht Ihr Herz getroffen hat“, erklärte Alma. Rodolfo dachte nach und meinte: „Ich kann mich nicht erinnern.“ „Jetzt sollten Sie ruhen. Ich werde den Arzt informieren, dass Sie aufgewacht sind. Sicherlich wird auch die Polizei benachrichtigt, damit Sie Ihre Aussage machen können.“ „Ich weiß gar nicht, was ich der Polizei erzählen soll. Wenigstens kann ich mich glücklich schätzen, dass ich von so einer netten und wunderschönen Krankenschwester betreut werde“, bemerkte er und seine Art war zuvorkommend, nicht aufdringlich. „Wie heißen Sie?“ „Alma“, antwortete sie und lächelte zurückhaltend.
Alma war dreißig Jahre alt, schlank und ihr schmales Gesicht wirkte mit den dunkelgrünen Augen, der schmalen Nase und den geschwungenen Lippen freundlich und aufrichtig. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Dutt gebunden. „Ich heiße Rodolfo Escalante“, stellte er sich vor. Alma lachte: „Ich weiß. Ich betreue Sie seit zwei Wochen.“ Rodolfo lachte ebenfalls und meinte dann nachdenklich: „Stimmt.“ Er überlegte kurz und fragte: „Und ich lag zwei Wochen im Koma?“ Alma nickte: „Wir haben Ihre Schwester informiert. Sie war so freundlich und hat Ihnen einige Sachen gebracht. Seitdem war sie allerdings nicht mehr hier.“ „Meine Schwester und ich haben ein ausgesprochen kompliziertes Verhältnis. Unsere Lebensvorstellungen sind sehr unterschiedlich, besonders die meines Schwagers“, erklärte er und lächelte gequält.
Am Tag seiner Entlassung half Alma ihm, seine Sachen zu packen. „Können Sie sich noch nicht an den Vorfall erinnern?“, fragte Alma. Rodolfo schüttelte den Kopf: „Nein. Ich weiß es wirklich nicht. Jetzt freue ich mich, das Krankenhaus endlich zu verlassen. Vielleicht kommt die Erinnerung zurück, sobald ich wieder in meinem Alltag bin.“ „Sie wissen aber, dass Sie sich noch schonen müssen“, ermahnte sie ihn freundlich. Rodolfo nickte: „Ja, das werde ich. Versprochen!“
Alma sah ihn mitfühlend an.
Rodolfo Escalante war ein sehr gebildeter Mann, zurückhaltend und bedacht. Er strahlte Ruhe und eine gewisse Geborgenheit aus. Er wirkte auf Alma sehr besonnen. „Sie sind ein Engel, Alma. Wie lange arbeiten Sie schon hier?“, wollte er wissen und sein warmer Blick ruhte auf ihr. „Seit fünf Jahren.“ „Das Krankenhaus kann sich glücklich schätzen, eine derart kompetente Pflegekraft zu haben. Sind Sie zufrieden?“, fragte er aufrichtig. Alma lächelte und antwortete: „Eigentlich schon. Ich liebe meinen Beruf. Trotzdem reicht das Geld nicht. Sie wissen ja, wie das in unseren Verhältnissen ist. Aber irgendwie geht es immer weiter. Ich arbeite außerdem noch in einer Fabrik, meistens nach meiner Schicht im Krankenhaus.“ „Das klingt nach sehr viel Arbeit. Das ist bewundernswert.“ „Ich bin bestimmt nicht die einzige, die mehrere Arbeiten verrichtet, um irgendwie über die Runden zu kommen“, erklärte sie optimistisch. „Sicherlich haben Sie doch Familie, oder?“, wollte er wissen und klang ehrlich besorgt. „Nur meine Mutter“, erklärte sie traurig.
Rodolfo sah sie an und reichte ihr seine Visitenkarte: „Rufen Sie mich an. Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.“